Startseite >> Tunesien >> Kritisches >> Religion und Politik

Die Kurzfassung

Religion & Politik

Religion & Politik

Politik

Nach der Revolution im Jahr 2011 ist Ende des Jahres 2014 die neue Verfassung ist in Kraft getreten und die gewählte Regierung hat ihre Arbeit aufgenommen. 

Die säkulare Partei Nidaa Tounes („Ruf Tunesiens“) ist die stärkste Kraft im Parlament.
Präsident von Tunesien ist Kais Saied.
Der 1958 geborene parteilose Verfassungsrechtler ist seit Oktober 2019 im Amt. Er gilt als sehr konservativ und spricht sich unter anderem gegen eine Gleichberechtigung von Frauen im Erbrecht aus. Die Kritik an seinem aktuellen Regierungsstil wird immer lauter.
Unter dem Vorwand des Bemühens um Korruptionsfreiheit werden seit 2020 immer wieder per Dekret beliebige Minister, hohe Beamte und sogar Richter abgesetzt, ausgetauscht und mitunter auch verhaftet. Ziel ist es laut eigener Aussage, eine echte Demokratie zu schaffen. Am 24.07.2022 ist eine Volksabstimmung zu einem neuen Verfassungsentwurf vorgesehen, für den es bereits Kritik gab. So seien bei der Erstellung bestimmte Grundsätze nicht eingehalten worden.

Tunesien ist sehr bemüht, die Ziele der Revolution nicht aus den Augen zu verlieren und das Leben seiner Einwohner stetig zu verbessern.  Auch wenn dieser Prozess in den Augen vieler nur sehr langsam voranschreitet, sind erste kleine Erfolge, gerade wirtschaftlicher Natur, erkennbar.

Der ebenfalls parteilose Hichem Mechichi ist seit September 2020 der Regierungschef Tunesiens.

Den Wechsel begleitet in Tunesien die stete Hoffnung auf Besserung der wirtschaftlichen Situation für die Bevölkerung.
Viele europäische Länder haben wirtschaftliche Hilfen zugesagt und das eine oder andere tunesische Selbsthilfeprogramm ist auch über einen längeren Zeitraum hinweg erfolgreich.

Eine besondere Rolle kommt in Tunesien der UGTT ( Union Générale Tunisienne du Travail), dem Gewerkschaftsdachverband, zu. Mehr als nur eine Arbeitnehmervertretung kämpft diese seit Jahrzehnten gegen soziale Ungerechtigkeiten und organisiert viele Demonstrationen und Streiks. Gerade aktuell flammen erneut Proteste in der Region Gafsa/Metlaoui auf. Diese Gegend war auch schon vor der Revolution eines der Pulverfässer des Landes.
Zu dem Quartett, das im Jahr 2015 den Friedensnobelpreis erhalten hat, gehört auch die UGTT.

Religion

Staatsreligion ist der Islam. In der seit 2014 existenten Verfassung des Landes gibt sich der Staat einen säkulären Anstrich. Artikel 6 garantiert offiziell Glaubens- und Gewissensfreiheit. Im Gegensatz zu allen anderen islamischen Ländern erlaubt Tunesien sogar keinen Glauben zu haben. Polygamie ist verboten, die Sharia ist nicht die Grundlage für die tunesische Rechtssprechung. Dennoch spielt die Religion im gesellschaftlichen Alltag eine große Rolle.

98% der Tunesier sind Muslime. Christen und Juden bilden jeweils eine sehr kleine Minderheit.

 

Die Ausübung der Religion gestaltet sich regional höchst unterschiedlich. Während man im Norden und den Touristengebieten auf fast europäisches Flair mit leicht islamischem Einschlag trifft, wird das Leben im Süden und den ländlichen Gebieten durch den Islam dominiert.
So zeigt sich z.B. an den Wahlergebnissen, dass die Islamisten in den ärmeren Landesteilen den gemäßigten Parteien zum Teil sehr deutlich überlegen sind.

Die Zahl der Tunesier, die sich religiös kleiden, ist nach dem Umbruch 2011 deutlich gestiegen. Obwohl eigentlich verboten, ist auch der Ganzkörperschleier gelegentlich zu sehen.

Reale Gefahr droht vor allem durch die in der Gegend um das Chambi-Massiv/Kasserine/Sbeitla konzentrierten Einheiten der islamischen Terrororganisation „Al Quaida im Maghreb“.
Seit Jahren kommt es dort immer wieder zu Gefechten mit den tunesischen Sicherheitskräften. Die geografische Lage des Landes zwischen Algerien und Libyen birgt außerdem die Gefahr “eingeschleppter” Konflikte.

Festnahmen von Menschen, die unter Terrorismusverdacht stehen, sind an der Tagesordnung. 

Die fundamental-isalmische Terrororganisation Islamischer Staat (arab. Daech) rekrutiert sich zum großen Teil aus jungen Männern aus Tunesien, was die Überwachung der Syrien-Heimkehrer notwendig macht.

Die Religion spielt auch bei der Bewertung kultureller Aspekte eine große Rolle. So wurden zuletzt immer wieder Filme verboten weil sie angeblich religiöse Gefühle verletzt haben oder es wurden Journalisten inhaftiert, sich respektlos dem Islam gegenüber geäußert haben sollen.

Bourghuiba-Mosche in Monastir

Frauenrechte

Tunesien gilt hinsichtlich der Rechte der Frauen als das fortschrittlichste aller islamischen Länder. In Artikel 21 der Verfassung Tunesiens aus dem Jahr 2014 heißt es:

„Alle Bürger und Bürgerinnen haben die gleichen Rechte und Pflichten und sind ohne Diskriminierung gleich vor dem
Gesetz. Der Staat garantiert die Rechte sowie die individuellen und kollektiven Freiheiten aller Bürger und gewährleistet für alle Bürger die Bedingungen eines menschenwürdigen Lebens.“ 

sowie im Artikel 46:

„Der Staat verpflichtet sich, die erworbenen Rechte der Frauen zu schützen und sich für deren Stärkung und Ausbau einzusetzen. Der Staat garantiert Frauen und Männern Chancengleichheit beim Zugang zu allen Verantwortungsebenen in allen Bereichen.  Der Staat setzt sich für die gleiche Vertretung von Frauen und Männern in gewählten Versammlungen ein.  Der Staat ergreift alle zur Ausmerzung von Gewalt gegen Frauen erforderlichen Maßnahmen.“

Frauen bedürfen auch keiner offiziellen Genehmigung ihres Mannes um arbeiten gehen zu dürfen. Die Scheidungsrate ist in Tunesien, wie in allen Ländern mit Gleichheitsgrundsatz und vor allem für islamische Verhältnisse recht hoch.

Gerade im Süden des Landes ist das Frauenbild jedoch noch sehr traditionell geprägt.

Erst im März 2018 gab es in Tunesien eine große Demonstration von Frauen, die eine Gleichbehandlung im Erbrecht einforderten.

Zu großer Kritik führte im Jahr 2017 die Aufforderung eines Moderators einer Fernsehsendung an eine junge Frau, sich bei ihrem Vater zu entschuldigen. Dieser hatte sie aus dem Haus geworfen, als sie mit 14 Jahren schwanger wurde. Die Schwangerschaft war das Resultat von mehrfacher Vergewaltigung innerhalb der Familie.

Die Proteste gegen diese frauenfeindliche Grundhaltung führten im Ergebnis dazu, dass das tunesische Parlament ein Gesetz erlassen hat, welches körperliche, moralische oder  sexuelle Gewalt gegenüber Frauen nunmehr unter Strafe stellt.

Moralisch gesehen lastet auf den Frauen eine große Verantwortung nicht nur für sich, sondern den Ruf der gesamten Familie.
Weibliches „Fehlverhalten“ wiegt noch immer viel schwerer als das der Männer, wobei das „Fehlverhalten“ in Europa für Frauen völlig normal ist.
Freundschaften zwischen Männern und Frauen -erst recht verheirateten- existieren nicht. Frauen gehen so gut wie nie im Bikini oder Badeanzug schwimmen, fast nie in Cafés, müssen bis zur Hochzeit Jungfrau bleiben, haben sich allein um den Haushalt und die Kinder zu kümmern, befinden sich selten in männlicher, nichtfamiliärer Gesellschaft. Oft ist es nicht geduldet, dass Frauen mit fremden Männern zu sprechen, nicht einmal, wenn sie angesprochen werden.

Also rein formell ist Tunesien tatsächlich sehr fortschrittlich, was die Frauenrechte angeht.
Bis diese Rechte die gesamte Gesellschaft durchdrungen haben, dürften jedoch noch viele Jahre oder Jahrzehnte vergehen.